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Die Bedeutung von Friedrich Wilhelm Raiffeisen

veröffentlicht im Genossenschafts-Magazin Weser-Ems, Ausgabe 05/2018

Anlässlich des „Raiffeisen-Jahres 2018“ interviewte Dieter W. Heumann für die Leser unseres Magazins Prof. Dr. Theresia Theurl, geschäftsführende Direktorin des Instituts für Genossenschaftswesen an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.

Frau Theurl, die Genossenschaften haben 2018 zum Raiffeisen-Jahr ausgerufen. Wer war der Mensch Friedrich Wilhelm Raiffeisen?

Friedrich Wilhelm Raiffeisen war einer der Pioniere des Genossenschaftswesens. Er war nicht bereit, die tristen wirtschaftlichen Gegebenheiten der Gemeinden des Westerwaldes, in denen er als Bürgermeister tätig war, einfach hinzunehmen. Er wollte sie verbessern, wollte zu einem wirtschaftlichen Fundament für die Menschen und zu einer Verbesserung der gesellschaftlichen Teilhabe beitragen. Von seinen persönlichen Merkmalen her war Friedrich Wilhelm Raiffeisen wohl ebenso zupackend und beharrlich als auch in der Lage, aus Erfahrungen, Fehlschlägen und Fehleinschätzungen zu lernen. Die Bereitschaft Verantwortung zu übernehmen, Hilfe zur Selbsthilfe zu vermitteln, aber auch selbst zu helfen, ist dazu gekommen. Die Orientierung an christlichen Werten und ein starker Glaube haben ihn und sein Handeln zusätzlich geprägt.

Raiffeisen wurde 1818 im Westerwald geboren. Was war das für eine Zeit, die Raiffeisen und sein Wirken geprägt hat?

Es war eine Zeit großer gesellschaftlicher und politischer Umwälzungen mit tiefgreifenden ökonomischen Folgen. Vor allem die Menschen in Landwirtschaft, Handwerk und Kleingewerbe waren nicht nur Problemen natürlicher Katastrophen, wie z.B. Missernten mit folgenden Hungersnöten ausgesetzt. Sie litten zusätzlich unter dem fehlenden Zugang zu Krediten. Wirtschaftliche Existenzgrundlagen und gesellschaftliche Teilhabe lagen daher für eine große Bevölkerungsgruppe außerhalb des in ihrer Lebenszeit Erreichbaren.

Ein berühmter Zeitgenosse von Friedrich Wilhelm Raiffeisen war Karl Marx. Beide haben auf die damals herrschenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse reagiert – aber auf sehr unterschiedliche Weise?

Der Vergleich von Friedrich Wilhelm Raiffeisen und Karl Marx ist deswegen so interessant, weil die beiden übereinstimmend von den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen ihrer Zeit ausgingen. Beide waren sie mit diesen unzufrieden und kritisierten sie. Beide wollten verändern und die Situation verbessern. Doch in ihrer Herangehensweise, ihren eigenen Aktivitäten und Empfehlungen könnten die Unterschiede größer nicht sein. Ihr Menschenbild wich grundlegend voneinander ab. Raiffeisen wollte keinen „anderen und idealen Menschen“ schaffen, er ging vielmehr von den Menschen mit ihren Stärken, aber auch Schwächen aus. Auch das Staats- und Politikverständnis der beiden unterschied sich. Raiffeisen setzte auf Eigeninitiative und Privateigentum, er wollte im Rahmen der vorherrschenden Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung Verbesserungen für die Menschen schaffen, nicht aber die Rahmenbedingungen zerstören, um eine Utopie anzustreben. Man könnte sagen, es ging bei Raiffeisen um innovative Lösungen für die identifizierten Probleme, nicht aber um die Zerstörung und die Revolution, die die Ideen von Karl Marx nach sich zogen. Bezüglich der einzelnen Gesellschaftsgruppen plädierte Raiffeisen für ein „verständnisvolles Miteinander“ und nicht für das Gegeneinander von Klassen. Bezieht man den Vergleich auf die heutige Zeit, haben sich die Ideen von Friedrich Wilhelm Raiffeisen wohl als die nachhaltigeren und tragfähigeren herausgestellt.

Welches waren die Ideen, mit deren Umsetzung Raiffeisen den Menschen der damaligen Zeit zu helfen versuchte?

Er organisierte die Gründung von Vereinen. Diese sind als Instrumente der Kooperation zu verstehen und sind die Vorläufer der Genossenschaften. Anfangs konnte er wohlhabende Gesellschaftsmitglieder überzeugen, das notwendige Startkapital beizusteuern. Aus diesem wurde Saatgut und Vieh erworben, mit dem es möglich war, den Menschen in Krisenzeiten Brot und eine wirtschaftliche Existenz zu vermitteln. Später ging es vor allem um die Organisation von Krediten für die ländliche Bevölkerung durch die Darlehenskassen-Vereine. Auch die Kreditnehmer wurden zu Mitgliedern, brachten Einlagen und Kapital auf. Zusätzlich entstanden ländliche Genossenschaften wie Molkerei-Genossenschaften oder Viehversicherungsgenossenschaften.

Welches war die Klammer all dieser genossenschaftlichen Aktivitäten?

die Zusammenarbeit in den genossenschaftlichen Vereinen, um etwas zu erreichen, was den einzelnen nicht möglich wäre,

die Orientierung aller Aktivitäten an den Bedürfnissen der Mitglieder,

die Organisation von Management und Kontrolle durch die Mitglieder. Dazu kam die Hoffnung, dass mit einer Verbesserung der wirtschaftlichen Situation der Einzelnen sich auch die Wirtschaftskraft in den Gemeinden sowie der gesellschaftliche Zusammenhalt verbessern würden. Es ging also auch um den Aufbau zusätzlicher Wirtschaftskreisläufe.

Schon bald erkannte Raiffeisen die Notwendigkeit von Darlehnsgewährungen?

Ja, zu diesem Zweck gründete er die Darlehenskassen-Vereine, die Vorläufer der Genossenschaftsbanken. Raiffeisen formulierte deren Statuten und entwickelte sie kontinuierlich weiter. Auch die Kreditnehmer wurden Mitglieder, im Zuge der Entwicklung wurde die Zeichnung von Geschäftsanteilen eingeführt. Dividenden konnten bezahlt werden. Raiffeisen forderte das Geschäftsgebiet der Darlehenskassen-Vereine möglichst klein zu halten, am besten in der Abgrenzung von Pfarrgemeinden. Dies entspricht einem wesentlichen Element der organisatorischen Innovation, die er geschaffen hatte. Es war ihm gelungen eine Lösung für das Problem der Informationsasymmetrien zu finden. Im Verein konnte die Wahrscheinlichkeit gut eingeschätzt werden, ob die Schuldner auch willens und in der Lage sind, die Kredite zurückzubezahlen. Dass die Bevölkerung vorher keinen Zugang zu Krediten hatte oder nur zu „Wucher-Konditionen“ beruhte auf diesen Informationsasymmetrien. Die Konditionen bildeten die Risikoprämie der Geldverleiher ab.

Machen wir den Sprung in die Gegenwart: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat die Schirmherrschaft über das „Raiffeisen-Jahr 2018“ übernommen. Und die UNESCO hat die Genossenschaften erst jüngst zum immateriellen Kulturerbe erhoben. Welche Bedeutung hat die genossenschaftliche Idee in der heutigen Zeit?

Genossenschaften passen ausgezeichnet in unsere Zeit. Sie erfüllen zahlreiche Anforderungen, die heute von den Menschen als wichtig eingeschätzt werden: Nachhaltigkeit und regionale/lokale Verankerung, Einflussnahme auf als wichtig eingeschätzte Bereiche des Lebens und Bereitschaft dafür Verantwortung zu übernehmen.

Welche gesamtwirtschaftliche und gesellschaftliche Bedeutung die genossenschaftliche Idee auch heute hat, zeigen die Genossenschaftsbanken nur beispielhaft: Von der letzten Wirtschafts- und Finanzkrise wurden vor allem die Banken auch hierzulande schwer getroffen. Wie sind die Genossenschaftsbanken – Raiffeisenbanken, Volksbanken sowie Spar-und Darlehnskassen  – durch die schlimme Zeit seit der Weltwirtschaftskrise gekommen?

Wir können heute rückblickend zusammenfassen, dass sich die Genossenschaftsbanken in dieser Zeit außerordentlich bewährt haben. Sie konnten die Vorzüge ihres Geschäftsmodells „ausspielen“. Dies wurde von der Bevölkerung und der Politik auch wahrgenommen. Es kam zu einem starken Reputationsgewinn.

Also haben die Genossenschaftsbanken als örtlich oder streng regional tätige Kreditinstitute in der heftigsten Wirtschafts- und Finanzkrise seit 1929 stabilisierend gewirkt und zusammen mit den Sparkassen dafür gesorgt, dass - im Vergleich zu vielen anderen Ländern – die Versorgung der deutschen mittelständischen Wirtschaft mit Bankgeschäften ohne größere Friktionen verlief?

Dies sind in der Tat Fakten: Genossenschaftsbanken haben nicht nur einen wesentlichen Beitrag zur Versorgung des Mittelstandes und von Privatkunden mit Krediten und anderen Finanzprodukten beigetragen, sondern sie haben darüber hinausgehend zur Stabilität des gesamten Finanzsystems einen wichtigen Beitrag geleistet.

Ist diese gesellschaftlich und gesamtwirtschaftlich wichtige Leistung bei der anschließenden Regulierung des Bankwesens durch staatliche Institutionen ausreichend gewürdigt worden?

Nein. Bisher wurde dem Risikoprofil der Genossenschaftsbanken zu wenig oder nicht Rechnung getragen. Mehrere Studien zeigen eine überproportionale Regulierungs- und Bürokratiekostenbelastung von kleineren und mittelgroßen Banken sowie von solchen mit günstigen Risikoprofilen wie sie Genossenschaftsbanken aufweisen. Daher ist es auch nicht überraschend, dass Genossenschaftsbanken sowohl durch die Geldpolitik mit ihren niedrigen Zinsen als auch durch die Regulatorik besonders unter Druck kommen, nämlich ertrags- und kostenseitig. Man könnte von einer „Draghi-Zange“ sprechen, der sie ausgesetzt sind. Doch die Genossenschaftsbanken schlagen sich insgesamt dennoch sehr gut. Es scheint inzwischen in der Politik auch zu einer gewissen Sensibilität gekommen zu sein, was die Regulierung von Banken mit unterschiedlichen Risikoprofilen betrifft. Man kann nur hoffen, dass sich dieser Prozess fortsetzt und zu konkreten Ergebnissen führt.  

Welche Wirtschaftskraft haben die Genossenschaften heute?

In Deutschland arbeiten derzeit über 8.000 Genossenschaften. Die Anzahl der sie tragenden Mitglieder liegt bei über 22 Millionen Menschen. Das heißt, jeder vierte Deutsche ist Mitglied einer Genossenschaft. Zudem beschäftigen die Genossenschaften in der Bundesrepublik ca. 800.000 Mitarbeiter.

Die genannten Zahlen spiegeln ein großes Interesse der Bevölkerung und der Wirtschaft an Genossenschaften wider.

In der Öffentlichkeit und in den Medien sind Genossenschaften aktuell tatsächlich recht präsent. Dies war nicht immer so und wird auch durch das „Raiffeisen-Jahr“ verstärkt. Insgesamt ist festzustellen, dass die Bevölkerung in Deutschland überraschend viel über Genossenschaften weiß und diese sehr positiv einschätzt. Viele Menschen wissen heute, dass sich in Genossenschaften mehrere Personen oder Unternehmen zusammentun, um gemeinsam etwas zu schaffen, was sie alleine nicht erreichen könnten. So stimmten dieser Aussage 76,2 Prozent der deutschen Bevölkerung in der ersten repräsentativen Primärerhebung über genossenschaftliche Informationen und Einschätzungen zu. 80,7 Prozent beurteilten diese Form der Zusammenarbeit als gut oder sehr gut (Theurl, Theresia/Wendler Caroline, 2011,„Was weiß Deutschland über Genossenschaften“).

In welchen Wirtschaftsbereichen werden heute neue Genossenschaften gegründet?

Interessant ist, dass neue Genossenschaften in zukunftsweisenden Wirtschaftsbereichen und für als wichtig eingeschätzte gesellschaftliche Herausforderungen gegründet werden. Dies ist nicht überraschend, da wir in einer Phase starker Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft leben. Genossenschaften sind in Zeiten des Wandels besonders stark: seine gemeinsame Bewältigung, die man sich alleine nicht zutraut und die alleine auch nicht möglich wäre. Dies sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Genossenschaften weit hinter der Gründung in anderen Rechtsformen zurückbleiben, obwohl Genossenschaften eine minimale Insolvenzquote aufweisen. 

Zunehmend wird heute die Verschlechterung der Infrastruktur in ländlichen Räumen beklagt.

Genossenschaften werden heute zunehmend für die Bewältigung gesellschaftlich wichtiger Herausforderungen gegründet. Sie eignen sich zur Organisation neuer Märkte und Wertschöpfungsketten sowie für die Entwicklung völlig neuer Problemlösungen. Und dabei geht es nicht selten um Bereiche, aus denen sich der Staat zurückzieht und die dann neu zu organisieren sind, wie z. B. Infrastrukturen. Dies ist ein wichtiger Anwendungsbereich im Zusammenhang mit der Budgetsituation von Kommunen geworden. Die Schließung von Infrastrukturlücken durch kollektive Selbsthilfe von Unternehmen und/oder der Bevölkerung fördert die Ansiedlung von Unternehmen und Menschen und kann Standorte und Lebensräume aufwerten oder eine negative Spirale des Verlusts von wirtschaftlichen Aktivitäten und einer Entsiedlung verhindern.

Können Sie weitere Beispiele nennen?

Andere Beispiele finden sich im Bereich der neuen Medien und der Informations- und Kommunikationstechnologien. So wurde etwa in Deutschland eine zentrale Registrierungsstelle für alle Domains unterhalb der Top Level Domain „.de“ mit der Gründung der DENIC eG genossenschaftlich aufgebaut. Aktuell wird die Organisation von Daten Clouds für mittelständische Unternehmen durch Genossenschaften diskutiert. Zielsetzung ist die Vermeidung der Abhängigkeit von externen Dienstleistern. Die Eigentümer der Daten wären die Eigentümer der Cloud und gleichzeitig die Nutzer der Cloud-Leistungen. In diesem Modell wird die genossenschaftliche Organisation als ein Vertrauensanker interpretiert.

Zweitens werden Genossenschaften geschaffen, um das Fehlen eines lokalen Angebots von Leistungen zu kompensieren. Besonders relevant ist dies in der Nahversorgung geworden. Dies betrifft nicht nur Lebensmittel, sondern ebenso logistische, kulturelle, ärztliche, soziale und andere persönliche Dienstleistungen. Vor allem die genossenschaftliche Gründung von Dorfläden und Dorfgemeinschaftshäusern hat bisher Verbreitung und Aufmerksamkeit erreicht.

Drittens werden genossenschaftliche Lösungen heute gewählt, um Vertrauensgüter und wissensbasierte Leistungen zu organisieren. Da deren Qualität erst dann eingeschätzt werden kann, wenn sie tatsächlich benötigt und genutzt werden, gewinnt die Identität des Anbieters große Bedeutung. Der Wunsch Abhängigkeit und Ausbeutbarkeit zu vermeiden und Entscheidungsrechte in wichtigen Lebensbereichen neu zu definieren, hat zur Gründung zahlreicher und vielfältig ausgestalteter Genossenschaften im Gesundheits- und Pflegebereich geführt. Nicht nur bei sozialen und persönlichen Dienstleistungen, sondern auch im Bildungsbereich werden genossenschaftliche Lösungen als geeignete Organisationsformen geprüft und gewählt.

Viertens hat sich herausgestellt, dass genossenschaftliche Kooperationen vereinbart werden, um Unabhängigkeit von bislang dominanten Anbietern zu erreichen, um mehr Transparenz über Konditionen und Wertschöpfungsprozesse zu erhalten sowie um Kontrollmöglichkeiten zu gewinnen. Als Beispiele dafür können viele der neu gegründeten Genossenschaften zur Energieerzeugung und -versorgung angeführt werden.

Vor allem für mittelständische Unternehmen und für Freiberufler stellt sich zunehmend die Herausforderung einer organisatorischen Einbindung komplexer Projekte, die wirtschaftliche Größe und den Zugang zu komplementären Kernkompetenzen erfordern. Ein zunehmender Wettbewerb sowie stark angestiegene Anforderungen durch die staatliche Regulierung haben zu einem fünften genossenschaftlichen Gründungskontext geführt. Beispiele dafür sind Handwerker- oder Beratergenossenschaften sowie Künstler- oder Ärztegenossenschaften. Genossenschaften nehmen hier die Organisationsform virtueller Unternehmen an, in denen projektbezogen zusammengearbeitet wird.

Sechstens bewerkstelligen Genossenschaften die Auslagerung und gemeinsame Organisation von Dienstleistungen und Aufgaben in der Form eines kooperativen Outsourcings. Auf diese Weise können nicht nur Kostenvorteile erreicht werden, sondern die resultierende Spezialisierung ermöglicht die Entwicklung zusätzlicher Kompetenzen, die die Wettbewerbsfähigkeit erhöhen. Viele Beispiele können genannt werden: Einkauf oder Vermarktung von Leistungen, Aufbau einer Marke, Organisation von Ausbildungsdienstleistungen, Interessenvertretung in der Politik, Entwicklung und Erstellung von IT-Dienstleistungen, Technologiezentren.

Vielen Dank für das Interview.